Abendzeitung / 21. Januar 1996
Befehlsverweigerer im Irrenhaus
O.M. Grafs Texte: „Ausg'schaamdt“
Er hockt am Tisch, breit und felsenfest wie ein massiver bayerischer Putto. Wenn er aggressiv und kantig die Texte seines Landsmannes, des bayerischen Dichters und halb- lebenslänglichen Exilanten Oskar Maria Graf liest, dann schickt Martin Sperr manchmal eine lange Pause dazwischen, ein halbes Lächeln wie ein Fragezeichen zwischen den Zeiten. Unter dem Titel „Ausg'schaamdt – Aufsässiges und Erotisches von Oskar Maria Graf“ präsentieren Martin und Sperr und Gabi Heller in Hans Melzers Inszenierung eine polemische, eher biographisch orientierte Textauswahl.
Im Münchner Feierwerk heißt sich's warm anziehen. Die Kälte und die karge, nur angedeutete Inszenierung rund um den Stuben- oder Wirtshaustisch passen zu dem, was da verhandelt wird. Das sind Texte von einem Querschädel, der wütend darauf besteht, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie ihm schadet. Wie im ersten Weltkrieg, wo er wegen Befehlsverweigerung ins Irrenhaus gesteckt wird, was er beschreibend als bitterböse Groteske beinahe genießt. Oder die schöne, weil knappe Passage von der Solidarität: Als Klein-Oskar in der väterlichen Bäckerei in Berg wieder mal Prügel bezieht vom großen Bruder, sagt die Magd Leni einfach: Bei uns ist' der Vater gewesen.
Gabi Heller ist die fütternde, die beschwichtigende, auch die erotische Muse. Die Flucht vor den braunen Nazihorden, das Exil in New York sagt sie abgründig, sanft lächelnd, in schwarzer Corsage an – inmitten erotischer Puppengirls auf der Bühne. Ein treffend falsches Bild. So, als hätte sich diese fremde Welt – Manhattan mitsamt den attackierten noblen Schriftstellerkollegen – dem Oskar Maria Graf als ein einziges irres Kabarett dargestellt.
Wer sich auskennt in Werk und Leben, und das sollte zwei Jahre nach Grafs Hundertstem so schwer nicht sein, erfährt zwar nichts wesentlich Neues, dafür viel spontan Persönliches. Diese Inszenierung wünscht man sich auf den guten, alten, wohl bis auf Reste aus-gestorbenen Wirtshausbühnen.
Ingrid Seidenfaden